Frankenreich im Zerfall: Reichsteilungen des 9. Jahrhunderts

Frankenreich im Zerfall: Reichsteilungen des 9. Jahrhunderts
Frankenreich im Zerfall: Reichsteilungen des 9. Jahrhunderts
 
Für den rückblickenden Betrachter kann es keinen Zweifel geben: Das Riesenreich Karls des Großen und Ludwigs des Frommen, das sich von der Eider bis zum Ebro, von der Rheinmündung bis südlich von Rom, vom Ärmelkanal und der Biskaya bis an Elbe, Saale und Donau erstreckte und zahlreiche Völker umfasste, konnte angesichts seiner inneren Unausgeglichenheit und der nur rudimentären Herrschafts- und Verwaltungsinstitutionen auf Dauer nicht von nur einer Zentrale aus regiert werden; es musste auseinander brechen, wenn sich die inneren Gegensätze verschärften und äußerer Druck hinzukam. Schon unter Karl dem Großen begannen sich die Verhältnisse zu ändern, die Zeit der Expansion ging zu Ende, und alle Kräfte richteten sich stärker auf den inneren Ausbau; aber noch war der Bestand des Großreiches nicht gefährdet, vielmehr konnte 817 der Versuch unternommen werden, der bislang nur durch etliche Zufälle gewahrten Einheit des Reiches auf dem Gesetzeswege Dauer zu verleihen.
 
 Der Kampf um die Reichsordnung von 817
 
Das damals verkündete System der ordinatio imperii schien Wirklichkeit zu werden, als Lothar I. 825 aus Italien zurückkehrte und Mitregent seines Vaters Ludwig wurde. In Wahrheit jedoch hatte schon längst jene Entwicklung eingesetzt, die die ordinatio imperii zum Scheitern brachte: Am 13. Juni 823 war dem Kaiser in Frankfurt von seiner zweiten Gemahlin Judith ein weiterer Sohn geboren worden, Karl (der Kahle), für den es keinen Platz in der Haus- und Nachfolgeordnung von 817 gab. Schon bald zeichnete sich das Bemühen der Mutter ab, auch ihrem Sohn einen Anteil am väterlichen Erbe zu sichern. Dies musste auf den erbitterten Widerstand der Verfechter des Einheitsgedankens stoßen, zumal die Geistlichen ohnehin ein Nachlassen des reformerischen Elans im Reich und selbst am Hofe feststellen mussten. Als Ludwig, anstatt auf ihr 828 formuliertes Reformanliegen einzugehen, im August 829 seinen jüngsten, nunmehr sechs Jahre alten Sohn mit einem aus Alamannien, dem Elsass, Rätien und Teilen Burgunds gebildeten Herrschaftsbereich ausstattete und Lothar I. im Herbst desselben Jahres vom Hofe entfernt und nach Italien entsandt wurde, kam es zu einer heftigen Reaktion der Vertreter des Einheitsgedankens. Sie gipfelte — wenngleich Karl 829 nicht zum König erhoben wurde und damit auch die ordinatio formal weiter in Kraft blieb — wegen Ludwigs eindeutigen Verstoßes gegen den Geist dieser Ordnung in offenem Widerstand gegen den alten Kaiser, in einer Rebellion, die von weltlichen und geistlichen Großen getragen wurde — von adligen Laien, die sich durch die offenbar immer stärker von der Kaiserin bestimmte Personalpolitik des Hofes herausgefordert fühlten, und von Geistlichen, die dem Einheitsgedanken verpflichtet waren und sich aufgrund besserer Einsicht in die göttliche Weltordnung und aus Verantwortung gegenüber dem Gemeinwesen nicht scheuten, Ludwig zu verlassen und Lothar herbeizurufen. Doch vermochte dieser seinen Vater nur für kurze Zeit beiseite zu schieben, da ihm die nötige Entschlusskraft, aber auch das rechte Augenmaß im Umgang mit seinen unterlegenen Gegenspielern fehlte. Schon Ende 830 hatte Ludwig das Heft wieder in der Hand. Im Februar 831 kam das Strafgericht über die Rebellen, und Lothar, der Mitherrschaft erneut verlustig, wurde wieder nach Italien abgeschoben. Die Erweiterung der Herrschaftsräume der jüngeren Söhne durch den alten Kaiser, die wahrscheinlich unmittelbar mit diesen Vorgängen zusammenhing, zeigt, dass Ludwig der Fromme die Prinzipien von 817 aufgegeben hatte.
 
 Machtkämpfe und der Vertrag von Verdun
 
Bald brachen jedoch neue Konflikte auf, deren Hintergründe nicht immer hinreichend erkennbar sind, bei denen zwar auch wieder die ordinatio imperii ins Spiel kam, die aber im Grunde einen reinen Machtkampf innerhalb der Dynastie und des Hochadels sichtbar werden lassen: ein Ringen um Einfluss und möglichst große Herrschaftsanteile. Das Reich wurde für mehr als ein Jahrzehnt in heftige Wirren gestürzt, Adel und Episkopat gewannen in dieser Zeit deutlich an politischem Einfluss, und eine Reihe unausgeführt gebliebener Teilungsprojekte wurde geschmiedet. Einen dramatischen Höhepunkt erlebte dabei das Jahr 833/834: die Gefangennahme Ludwigs des Frommen bei Colmar, nachdem ihn sein Heer verlassen hatte; der Versuch, ihn durch die Kirchenbuße, die er in Saint-Médard zu Soissons vollzog und in deren Verlauf er seine Waffen ab- und das Büßergewand des Exkommunizierten anlegte, für alle Zeiten unfähig zur Herrschaftsausübung zu machen; der Umschwung zu seinen Gunsten und die Rückkehr zur Macht, als Lothar sich ein weiteres Mal als unfähig erwies, die Interessengegensätze im eigenen Haus und im Adel auszugleichen und die Herrschaft zu behaupten. Doch vermochte auch Ludwig keine allseits akzeptierte Nachfolgeordnung mehr durchzusetzen. Als er am 20. Juni 840 auf einer Rheininsel bei Ingelheim starb und im Arnulfskloster bei Metz die letzte Ruhe fand, war die weitere Entwicklung daher noch völlig offen. Nur unter den Thronanwärtern hatte es eine Veränderung gegeben, da Pippin I. von Aquitanien schon 838 verstorben war. Sein Sohn Pippin II. machte nun neben Lothar, Ludwig dem Deutschen und Karl II., dem Kahlen, Ansprüche geltend.
 
Als Lothar die vollen Kaiserrechte, die ihm die formell ja nie aufgehobene ordinatio imperii zuwies, für sich beanspruchte, kam es am 25. Juni 841 bei Fontenoy nahe Auxerre zur offenen Feldschlacht zwischen ihm, dem sich auch Pippin II. angeschlossen hatte, und seinen jüngeren Brüdern Ludwig und Karl, die den blutigen Kampf zwischen Verwandten und Christen für sich entschieden und ihren Sieg als Gottesurteil deuteten. Die Verluste waren hoch, der fränkische Adel leistete einen beträchtlichen Blutzoll und war daher in steigendem Maße an einem Ausgleich der Gegensätze interessiert. Nach zähen und von gegenseitigem Misstrauen überschatteten Verhandlungen kam es im August 843 in Verdun zu einem Teilungsvertrag unter den karolingischen Brüdern, in dem Pippin II. nicht berücksichtigt wurde, da Lothar ihn fallen gelassen hatte. Die Teilung erfolgte nach dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Gleichgewichtigkeit und orientierte sich deswegen stark am wirtschaftlichen Ertrag. Da Aquitanien, Italien und Bayern von ihr ausgenommen waren, konnte sie sich geographisch nur vom Süden nach Norden erstrecken und schuf für Karl ein sich bis an Rhône, Saône, Schelde und Maas ausdehnendes Westreich, ein lang gestrecktes, die Kaiserstädte Rom und Aachen umfassendes, im Osten auf weite Strecken von Rhein und Aare sowie von den Gebirgszügen der Alpen begrenztes Mittelreich für Lothar I. und ein Ostreich für Ludwig den Deutschen.
 
»Nationale« Momente spielten bei dieser Aufteilung überhaupt keine Rolle, und auch Deutschland oder Frankreich sind keinesfalls durch den Verduner Vertrag geschaffen worden. Wenn sich Karl der Kahle und Ludwig der Deutsche 842 in Straßburg gegenseitig Eide in der Volkssprache leisteten — Ludwig in romanischer, Karl in germanischer, um jeweils von der Gegenseite verstanden zu werden —, dann zeigt sich daran zwar die sprachliche Vielfalt im Karolingerreich und die Mehrsprachigkeit der karolingischen Brüder, nicht jedoch das Werden von Nationen. Der Vertrag von Verdun basierte auf einer dynastischen Teilung und bedeutete lediglich eine Aufgliederung des Großreiches in Zuständigkeitsbereiche, er war weder unabänderlich, noch hob er die ideelle Einheit des Gesamtreiches auf; diese wurde vielmehr durch die Herrschaft der karolingischen Brüdergemeine und die Treffen der Karlsenkel, die »Frankentage«, weiterhin repräsentiert. Andererseits setzte mit Verdun eine Entwicklung ein, an deren Ende es ein französisches und ein deutsches Staatswesen gab, ein Prozess, der von vielen Zufällen bestimmt war und keinem zwingenden Kausalgesetz folgte. Von Bedeutung war dabei zweifellos die dynastische Konsolidierung der Herrschaftsgebilde, die Verfestigung eines politischen Rahmens, in dem unterschiedliche Bevölkerungsgruppen zusammenwachsen und ein Wir-Gefühl entwickeln konnten. Gelang dies, dann entstanden — wie im West- und Ostreich — neue staatliche Gebilde, in denen sich schließlich neue Völker (Franzosen und Deutsche) formten; gelang es nicht — wie im Mittelreich westlich und nördlich der Alpen —, dann vollzog sich auch keine neue Volkswerdung. Das ist eine wichtige Erkenntnis, die ältere Ansichten gleichsam vom Kopf auf die Füße stellt: Herrschaftsbildung und Staatswerdung gehen der Volks- und Nationswerdung voraus.
 
 Die Auflösung des Karlsreiches
 
Im Jahr 843 wollten die Söhne Ludwigs des Frommen keine dauerhaften Machtgebilde schaffen; die Versuche Ludwigs des Deutschen und später Karls des Kahlen, ihre Herrschaftsgebiete auf Kosten der Brüder und Neffen auszudehnen, machen dies ebenso deutlich wie die Teilungen, die Lothar I. und Ludwig der Deutsche zugunsten ihrer Söhne vornahmen, während Karl der Kahle nur von einem Sohn überlebt wurde, dessen Reich jedoch später ebenfalls geteilt werden sollte. Durch Teilungen ist daher nach 843 eine ganze Reihe von Reichen entstanden, die oft nur von kurzer Dauer waren. Dem Zufall, dass ein Sohn Ludwigs des Deutschen, Karl III., der Dicke, alle seine Brüder und die männlichen Repräsentanten der übrigen karolingischen Linien (mit Ausnahme des kleinen Karls des Einfältigen, eines Enkels Karls des Kahlen, und des unehelichen Arnulfs von Kärnten, eines Sohnes seines Bruders Karlmann) überlebte, allein dieser unvorhersehbaren dynastischen Konstellation war es zu verdanken, dass fast das gesamte Reich Karls des Großen 884 noch einmal zusammengefasst werden konnte. Karls III. Sturz im Jahre 887 ließ dieses Herrschaftsgebilde dann aber endgültig auseinander brechen; seine Monarchie zeigte letztlich nur den Wandel der Zeiten und die Unmöglichkeit, das Großreich von nur einer Zentrale aus zu regieren.
 
Eine wirkliche Zusammenfassung des urgroßväterlichen Herrschaftsgebildes war ohnehin nicht zustande gekommen: Karl III. datierte seine Urkunden nach den unterschiedlichen Herrschaftsantritten in den einzelnen Teilreichen, deren Eigenständigkeit mithin gewahrt blieb. Insgesamt hatten sich seit 843 im Laufe von rund vierzig Jahren vier Herrschaftsverbände mit monarchischer Spitze gebildet, die ihrerseits zeitweise weiter untergliedert wurden: das Königreich Italien, das Ostfränkische Reich — dem seit dem Vertrag von Ribemont (880) der nördliche Teil des Mittelreiches, Lotharingien, angegliedert war, nachdem ihm schon 870 durch den Vertrag von Meerssen dessen östliche Hälfte zugefallen war — das Westfränkische Reich und das am Unterlauf der Rhône gelegene Königreich Provence (Niederburgund).
 
Vor diesem Hintergrund entstand ein System spät- und nachkarolingischer Staatswesen, an deren Spitze nunmehr auch — wie seit 879 erstmals im Falle Bosos von Vienne im Königreich Provence — Vertreter der fränkischen Reichsaristokratie stehen konnten. Die durch die Einfälle der Sarazenen im Süden und der Normannen im Westen und Nordwesten seit der 1. Hälfte des Jahrhunderts ständig angewachsene Bedrohung von außen, die kurz vor der Jahrhundertwende durch die von Osten anstürmenden Magyaren (Ungarn) noch weiter gesteigert werden sollte, erforderte eine Dezentralisierung der Abwehr, da die Verteidigung vom Königshof allein nicht zu leisten war. Dies eröffnete dem regionalen und lokalen Adel Bewährungschancen und zusätzliche Möglichkeiten der Herrschaftsbildung und des Aufstiegs. Versagte in dieser Situation auch noch das durch Adelsfaktionen und Familienhader ohnehin geschwächte Königtum, dessen Träger im letzten Viertel des 9. Jahrhunderts zudem auch keine herrschgewaltigen Persönlichkeiten mehr waren, dann schlug die Stunde der zupackenden Parvenüs aus dem Kreise der im ganzen Reich durch Ämter, Lehen und Besitz sowie durch familiäre Nähe zu den Karolingern ausgezeichneten Adelsfamilien.
 
Dies zeigte sich besonders nach dem Sturz Karls III. im November 887. Den schwer kranken Kaiser, der in der Abwehr der Normannen erfolglos geblieben und dessen Unfähigkeit, die Herrschaft auszuüben, offenkundig geworden war, verließen die in Tribur versammelten ostfränkischen Großen und wandten sich dem aus dem Südosten anrückenden Arnulf von Kärnten zu. In den übrigen Teilen des Reiches jedoch griffen, dem Beispiel Bosos folgend, weitere Mitglieder der Reichsaristokratie nach der Krone, sodass um 900 das System der karolingischen Nachfolgestaaten schließlich aus fünf Herrschaftsgebilden bestand: dem von Karolingern geführten Westfränkischen und Ostfränkischen Reich, dem neu geschaffenen welfischen Königreich Hochburgund, dem bosonidischen Königreich Niederburgund und dem Königreich Italien, dessen Herrscher Berengar 915 sogar die Kaiserwürde erlangte.
 
 Arnulf von Kärnten und das Ende der ostfränkischen Karolinger
 
Arnulf sah dem Aufstieg dieser reguli (Kleinkönige), wie sie der Regensburger Fortsetzer der Fuldaer Annalen respektlos nennt, zunächst tatenlos zu und erkannte die neuen Könige an, wenn sie bereit waren, seine Oberhoheit (wohl in Form einer Lehnssuprematie) und seine eigene Herrschaftssphäre zu akzeptieren. Er betrieb ganz offenkundig keine großfränkische Restaurationspolitik und begnügte sich mit der unmittelbaren Herrschaft im ostfränkisch-lotharingischen Reich sowie mit der Anerkennung seines hegemonialen Vorrangs. Sah er diese Position allerdings gefährdet, dann griff er militärisch ein. In der Tat gelang es ihm zunächst auch, seinen hegemonialen Rang zu wahren; doch ereilte ihn 896 das Verhängnis der ostfränkischen Spätkarolinger, nachdem er noch im Februar dieses Jahres die Kaiserwürde als letzter Karolinger im Mannesstamm überhaupt erlangt und damit wieder an das Haus Ludwigs des Deutschen gebracht hatte: Obwohl durch einen Schlaganfall gelähmt, reichte seine Autorität aus, die Geschicke des Ostreichs mehr als drei Jahre lang vom Krankenlager aus zu lenken, bis ihn der Tod am 8. Dezember 899 erlöste. Das Königtum des ostfränkischen Karolingers war gefestigt genug, um von Arnulfs minderjährigem Sohn Ludwig dem Kind fortgeführt zu werden.
 
Die Umstände von Arnulfs Herrschaftsantritt, vor allem das Handeln der ostfränkischen Großen, und die Beschränkung von Arnulfs unmittelbarer Königsherrschaft auf das Ostreich einschließlich Lotharingiens, also auf den Raum des späteren deutschen Reiches, galten der älteren Forschung als Indiz dafür, dass die Entscheidung von 887 von einem »deutschen« Sonderbewusstsein und Wir-Gefühl mit getragen worden sei. Doch handelte Arnulf allein, um seinen Thronanspruch durchzusetzen; und die von Karl III. zu einer ostfränkischen Reichsversammlung geladenen Großen fielen von diesem wohl vorwiegend deshalb ab, weil sie seine Regierungsunfähigkeit erkannten. Von der Vorstellung einer Zusammengehörigkeit der »deutschen« Stämme und Gebiete ist weder beim Adel noch in Arnulfs Politik etwas zu bemerken. Vielmehr teilte der Karolinger sein Reich nochmals in fränkischer Tradition und erhob seinen unehelichen Sohn Zwentibold, nicht zuletzt auch deshalb, um die Ambitionen Rudolfs von Hochburgund abzuwehren, 895 zum König von Lotharingien (und Burgund). Dieses Königtum hatte keinen Bestand: Im Jahre 900 schlossen sich die Großen Lotharingiens dem Ostreich an und verzichteten damit auf die Eigenständigkeit des Königreiches, 911 wandten sich die Lothringer dagegen dem Westreich zu. Dies geschah wohl noch vor dem Tode Ludwigs IV. (des Kindes) am 24. September 911 und stellte eine gegen den Königshof und die diesen dominierende Adelsgruppe gerichtete Demonstration dar.
 
Mit Ludwig IV., der nur achtzehn Jahre alt wurde, erlosch der Mannesstamm der ostfränkischen Karolinger. In seiner Regierungszeit, in der eine Art fürstlicher Regentschaftsrat die Zügel führte, zeichneten sich in den einzelnen Regionen des Ostfränkischen Reiches bedeutsame Entwicklungen zugunsten aufsteigender Adelsfamilien ab: die Herausbildung der jüngeren Stammesherzogtümer, die die weiteren Geschicke des Ostfränkischen Reiches entscheidend mitprägen sollten. Doch stellte sich für die Großen des Ostreichs 911 zunächst die Frage, ob sie den westfränkischen König Karl den Einfältigen, den einzigen noch lebenden Karolinger, zur Herrschaftsübernahme einladen und damit die karolingische Herrschaft fortführen oder ob sie aus den eigenen Reihen einen König wählen sollten. Sie entschieden sich gegen die karolingische Lösung und erhoben Konrad I., das Haupt der in Franken mächtigen Konradinerfamilie, zum Herrscher. Dies war in gewissem Sinne eine Entscheidung für Kontinuität, denn als Konradiner gehörte der neue König zu jener Adelsgruppe, die schon unter Arnulf von Kärnten an Einfluss gewonnen und unter Ludwig dem Kind die Politik bestimmt hatte; doch ist andererseits die Zäsur unverkennbar, die die Ablösung der karolingischen Herrschaft im Ostreich bedeutete, während sich die Karolinger im Westreich, wenn auch unter beständiger Gefährdung und zeitweiligem Ausschluss vom Königtum, noch bis 987 an der Herrschaft zu halten vermochten.
 
 Fürstliche Mittelgewalten
 
Die Kräfte, die zur Auflösung des fränkischen Großreiches führten, entfalteten sich in den Jahrzehnten um 900 mit voller Macht. Noch war keineswegs entschieden, ob das System der karolingischen Nachfolgestaaten nur aus den schon Kontur annehmenden fünf Königreichen West- und Ostfranken, Hoch- und Niederburgund sowie Italien bestehen würde oder ob aus dem Auflösungsprozess noch weitere Staatswesen mit monarchischer Spitze hervorgehen sollten. Die Schwäche der königlichen Gewalt und der Druck äußerer Feinde führten jedenfalls zu fürstlichen Herrschaftsbildungen, die besonders im West- und Ostreich zu weiteren Abspaltungen hätten führen können. Die im Westen wie im Osten entstehenden Mittelgewalten, die schließlich zu Herzogtümern wurden, sind von ihrer Struktur her vergleichbar. Sie wurden geschaffen von mächtigen Adligen, die über reichen Grundbesitz, Lehen und Ämter verfügten, eine übergräfliche Stellung besaßen, sich im Kampf, besonders gegen äußere Feinde, bewährten und in Königsnähe gerückt waren. In Westfranken nahmen sie — zunächst als marchiones (Markgrafen, marquis), dann als duces (Herzöge) bezeichnet — eine territorial recht geschlossene Position ein, in der sie nicht nur über die Grafen, sondern auch über die Bistümer, Abteien und das Königsgut in Stellvertretung des Königs geboten, während im Ostreich diese umfassende vizekönigliche Stellung weniger deutlich zu erkennen ist, aber zweifellos im Ansatz vorhanden war. Hier spielte dafür ein ethnisches Moment eine gewisse Rolle, werden die Herzöge doch nach den Volksverbänden der Sachsen, (Ost-)Franken, Baiern und Alamannen bezeichnet. Die ältere Forschung hat diesen Umstand überbetont und die entstehenden Fürstentümer als »(jüngere) Stammesherzogtümer«, die duces als »Stammesherzöge« charakterisiert, doch bleibt das Verhältnis zwischen »Stamm« und »Herzog« in den Quellen eigentümlich unklar. Insgesamt sollte daher wohl eher das Vergleichbare an den Entwicklungen fürstlicher Mittelgewalten in Westfranken, Ostfranken und auch in Italien betont werden, ohne dabei jedoch die nuancierenden und differenzierenden Unterschiede außer Acht zu lassen.
 
Abgesehen von den sich in Italien und im Westfrankenreich ausbildenden fürstlichen Herrschaftsgebieten entstanden im Ostfrankenreich in den ersten drei Jahrzehnten des 10. Jahrhunderts die Herzogtümer Bayern, Sachsen, Franken, Schwaben und zuletzt Lotharingien, die die Struktur des ottonischen Reiches prägen sollten; ihre Entstehung ist daher für die weitere Geschichte des ostfränkisch-ottonisch-deutschen Reiches von erheblicher Bedeutung gewesen.
 
 Das ostfränkische Königtum Heinrichs I.
 
Obwohl Konrad I. (911—918) selbst dieser fürstlichen Mittelschicht entstammte, versuchte er in Fortsetzung karolingischer Politik, die Konsolidierung der Herzogtümer zu verhindern. Bei diesem Unterfangen scheiterte er allerdings, obwohl er — ebenfalls nach karolingischem Vorbild — ein enges Bündnis mit der Kirche eingegangen war, die sich 916 auf der Synode von Hohenaltheim mit ganzer Autorität hinter das konradinische Königtum stellte. Beim Tode Konrads war jedoch keines der Probleme seiner Regierung gelöst: weder die Neubestimmung des Verhältnisses zwischen dem Königtum und den sich formierenden Fürstengewalten noch die dauerhafte Abwehr der Ungarn noch die Wiedereingliederung Lotharingiens in das Ostreich. Die Lage, in der ein neuer König gefunden werden musste, war demnach höchst kompliziert; und niemals war die Gefahr eines Auseinanderfallens des Ostfränkischen Reiches wohl größer als zu Beginn des Jahres 919.
 
Herr Heinrich saß nicht am Vogelherd — wie spätere Erzählungen berichten —, als ihn überraschend die Nachricht von seiner Wahl zum König erreichte; und auch die ein halbes Jahrhundert später verfassten Darstellungen der ottonischen Historiographie, nach denen der söhnelose Konrad I. in richtiger Einschätzung der politischen Lage auf dem Sterbelager nicht seinen Bruder Eberhard, sondern den mächtigen Sachsenherzog Heinrich aus dem Geschlecht der Liudolfinger als Nachfolger empfohlen haben soll, verschleiern wohl zu sehr dessen Eigeninitiative. Sicher ist jedoch eines: Heinrichs Königtum, 919 im fränkischen Fritzlar nahe der Grenze zu Sachsen begründet, beruhte zunächst nur auf der Anerkennung von Sachsen und Franken; diese beiden Herzogtümer sollten bis in die Regierungszeit von Heinrichs Sohn Otto hinein den eigentlichen Kernraum der liudolfingischen Königsherrschaft bilden. Schwaben und Bayern hingegen standen unter den Herzögen Burchard I. und Arnulf dem Bösen, einem Luitpoldinger, zunächst abseits, und möglicherweise hegte der Bayernherzog selbst königliche Ambitionen.
 
Der neue König hielt es deshalb für ratsam, in deutlicher Abkehr von dem Regierungsstil seines Vorgängers und unter Verzicht auf eine durch die Salbung zusätzlich sakral legitimierte Herrschaftspraxis karolingischen Musters den Herzögen behutsam entgegenzutreten. Zwar mit militärischen Demonstrationen, letztlich aber doch weniger mit dem Schwert als durch Verhandlungen vermochte er auf diese Weise schon 919 die Anerkennung durch den Schwabenherzog zu erringen; 921 folgte Arnulf von Bayern dem schwäbischen Beispiel. Der Bestand des Ostfränkischen Reiches war damit gewahrt, wenn auch nur in lockerer Form, denn die Zugeständnisse Heinrichs an die im Süden herrschenden Herzöge gingen weit; diese nahmen eine fast unabhängige vizekönigliche Stellung ein und erhielten — für Arnulf ist es bezeugt, für Burchard lässt es sich vermuten — sogar die Kirchenhoheit in ihrer Herrschaftssphäre zugestanden.
 
Das behutsame, Gegensätze ausgleichende oder überspielende Vorgehen des Liudolfingers zeigt sich auch in dem Bemühen, mit wichtigen Adelsgruppen Freundschaftsbünde (amicitiae) einzugehen. Doch spiegelt sich hierin nur eine Seite der Politik des Königs aus Sachsen, die andere zeigt die Anwendung traditioneller Methoden. So schloss Heinrich mit Burchard von Schwaben und Arnulf von Bayern nicht nur Freundschaft, sondern machte die Herzöge auch zu seinen Vasallen. Das vasallische Band war zunächst nur locker geknüpft, aber es ließ sich zu gegebener Zeit straffen. Als Burchard 926 starb, reichte Heinrichs Autorität schon aus, einen Stammesfremden als Herzog von Schwaben einzusetzen: den Konradiner Hermann, ein Mitglied jener fränkischen Familie also, mit der der König seit seiner Erhebung eng zusammenarbeitete. Gelang es mithin schon 926, die königliche Prärogative in Schwaben zurückzugewinnen, so blieb dies hinsichtlich Bayerns eine Aufgabe für Heinrichs Nachfolger Otto, denn Arnulf überlebte den ersten Liudolfinger auf dem Thron.
 
Einen Freundschaftsbund ging Heinrich auch mit dem westfränkischen Karolinger Karl dem Einfältigen ein, der dabei das ostfränkische Königtum des Sachsen anerkannte. Am 7. November 921 schlossen die beiden Könige auf einem Schiff, das auf der Höhe von Bonn in der Mitte des Rheins verankert war, einen Freundschaftsvertrag und machten durch die Ortswahl deutlich, wo sie die Grenzen ihrer Reiche sahen. Als Karl jedoch bald darauf in Schwierigkeiten mit den westfränkischen Großen geriet, erfüllte Heinrich seine Freundschafts- und Vertragspflicht nicht, sondern nutzte die Chance, Lotharingien wieder an das Ostreich zu ziehen. Seit 925 unterstand dieser karolingische Kernraum seiner Königsherrschaft und wurde unter seinem Schwiegersohn Giselbert spätestens 928 zum fünften Herzogtum des ostfränkischen Reichsverbandes. Die Einbeziehung des ehemaligen Lotharreiches sollte zwar nicht endgültig sein, aber über Jahrhunderte hinweg Bestand haben.
 
Der inneren Konsolidierung der sächsischen Königsherrschaft folgte die Sicherung des Reiches nach außen. Auch Heinrich vermochte der Ungarneinfälle zunächst (919, 924, 926) nicht Herr zu werden. Gegen Tributzahlungen erwirkte er jedoch einen neunjährigen Waffenstillstand, den er dazu nutzte, Schutz- und Fluchtburgen anzulegen, den Heerbann zu reorganisieren, die Ostgrenze zu sichern und seine Herrschaft weiter in den slawischen Raum hineinzutragen. Schließlich kündigte er den Waffenstillstand auf und erfocht am 15. März 933 an der Unstrut einen Sieg über die Ungarn, der zwar noch nicht endgültig, aber doch immerhin sehr wirksam war.
 
Nach nur anderthalb Jahrzehnten waren liudolfingische Monarchie und Ostfränkisches Reich weitgehend gefestigt, und selbst West- und Südeuropa traten schon in dieser Zeit in das Blickfeld des sächsischen Königs: Rudolf II. von Hochburgund übergab Heinrich wohl 926 die Heilige Lanze als Zeichen der Huldigung, und der Liudolfinger selbst griff schlichtend in die Konflikte ein, die der westfränkische König Rudolf mit seinen Lehnsfürsten austrug. 935 schloss er mit diesen beiden Herrschern gleichen Namens in einem südlich von Sedan an der Maas gelegenen Ort einen Freundschaftsbund; ein neuer hegemonialer Rang des Ostreiches begann sich abzuzeichnen. Ob Heinrich, bevor er am 2. Juli 936 in Memleben starb und in der liudolfingischen Stiftung Quedlinburg die letzte Ruhe fand, auch schon einen Romzug plante, bleibt hingegen unsicher; für seinen Sohn und Nachfolger Otto jedenfalls schuf er günstige, wenn auch noch entwicklungsbedürftige Voraussetzungen, die es diesem ein Vierteljahrhundert später ermöglichten, den Weg zum Tiber einzuschlagen.
 
Prof. Dr. Franz-Reiner Erkens
 
Grundlegende Informationen finden Sie unter:
 
Frankenreich als Hegemonialmacht des Abendlandes: Karolingerreich
 
 
Brühl, Carlrichard: Deutschland - Frankreich. Die Geburt zweier Völker. Köln u. a. 21995.
 
Charlemagne's heir. New Perspectives on the reign of Louis the Pious (814-840), herausgegeben von Peter Godman u. a. Oxford 1990.
 Ewig, Eugen: Die Merowinger und das Frankenreich. Stuttgart u. a. 21993.
 Fried, Johannes: Der Weg in die Geschichte. Die Ursprünge Deutschlands bis 1024. Berlin 1994.
 Schneider, Reinhard: Das Frankenreich. München 31995.

Universal-Lexikon. 2012.

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